Was Herr Leemhuis nicht über X11 Fenstermanager weiss
Heute hat Thorsten Leemhuis bei Heise einen Artikel darüber veröffentlicht, dass angeblich die Gefahr drohe, dass der [Linux-]Desktop zersplittere. Und zwar weil jemand den Gnomedesktop geforkt und Ubuntu Unity eingeführt hat.
Fangen wir mal beim grundsätzlichen an, Herr Leemhuis schreibt:
Statt zwei sind es daher nun sechs Desktops, die hoch in der Gunst der Anwender stehen. Diese Konkurrenz wird sicher das ein oder andere nützliche Bedienkonzept entstehen lassen; aber das wird die Nachteile, die der Wettbewerb und die Zersplitterung mit sich bringen, nicht aufwiegen können. [Hervorhebung von mir]
Es ist hier die Rede von Opensource Software. Die mag im "Wettbewerb der Beliebtheit" stehen, mehr aber auch nicht. Eine "Konkurrenz" gibt es in dem Bereich nicht. Es gibt keinen "Desktop Hersteller" im eigentlichen Sinne, auch wenn zum Beispiel die meisten Entwickler von Gnome bei Redhat angestellt sein mögen. Dieses Marketinggeschwätz passt überhaupt nicht zum Gedanken, der hinter Linux im speziellen und Opensource im Allgemeinen steht. Oder weniger nett formuliert: Hätte Herr Leemhuis hier die ganzen Bullshitbingobegriffe weggelassen, wäre der Artikel nur noch halb so voll gewesen - allerdings auch von jedem weiteren Sinn befreit. Denn wenn man sich vor Augen hält, dass es diese herbeifabulierte Konkurrenz gar nicht gibt, dann wird einem schnell klar, dass keine Gefahr droht, wenn es plötzlich mehr Desktops gibt als vorher. Insofern hätte sich der Artikel bereits an Substanzlosigkeit in Luft aufgelöst.
Der Denkfehler (oder soll ich es eklatante Wissenslücke nennen?) ist jedoch, dass genau dieses forken und weiterentwickeln der eigentliche evolutionäre Motor der gesamten Opensourcebewegung ist. Wieviele coole Dinge nutzen wir heute, die als Forks angefangen haben? FreeBSD, Firefox oder Android - um nur ein paar zu nennen. Und es war schon immer so, dass es mehr Forks gibt, als Überlebende. Nur ein paar geforkte Projekte entwickeln sich wirklich signifikant weiter und überholen das Elternprojekt oder lösen es sogar später ab. Auf dem Weg dahin gibt es immer reichlich Tote (Projekte). Das ist wie bei der natürlichen Evolution. Wir Menschen sind auch nur Forks. Und wir sind der einzige überlebende Fork, nicht der einzige den es je gab. Auf dem Weg vom kleinen Säuger bis zu uns Homo Sapiens sind zig tausende Arten ausgestorben. Nicht anders ist das bei Opensource.
Das ist völlig normal. Und weil das so ist, gibt es immer von allem mehrere. Es gibt mehrere Terminalprogramme, mehrere Mailprogramme, mehrere Shells, mehrere Interpreter, mehrere Compiler, mehrere Grafikprogramme, mehrere Taschenrechner und natürlich auch mehrere Fenstermanager. Und das ist verdammt gut so.
Und da wären wir beim eigentlichen Verständnisproblem: tatsächlich gibt es gar keinen "Desktop" unter Linux. Die grafische Oberfläche unter Linux (und übrigens auch FreeBSD, OpenBSD oder OpenSolaris) ist X11. Das stellt Protokolle für die Client-Server-Kommunikation zwischen grafischen Komponenten zur Verfügung. Darauf setzt der Fenstermanager auf. Es gibt mehrere Dutzend Fenstermanager. Wobei da nur die aktiv entwickelten gezählt sind. Einschliesslich aller Existierender sind es Hunderte!
Und auf dem Fenstermanager kann ein Sessionmanager aufsetzen. Gnome oder KDE sind solche Sessionmanager. Tatsächlich ist der Fenstermanager, den KDE verwendet KWin. Den kann man sogar ohne das KDE-Gedöhns benutzen. Plünnkram wie eine Taskbar, Startmenü oder Drag&Drop bietet der Sessionmanager an.
Grundsätzlich kann jeder Anwender den Fenstermanager (oder Sessionmanager) verwenden, den er will, und zwar völlig unabhängig davon, welche Linuxdistribution er einsetzt oder was dort der Default sein mag. Meinetwegen kann Ubuntu vorgeben, was es mag. Wenn ich nicht mit Unity arbeiten möchte, lösche ich es und installiere was anderes. Und wenn es Ratposon ist. Und nein, man muss dazu nicht mal ein erfahrener Anwender sein, die Ubuntu Bordmittel, namentlich das Paketsystem, erlauben so etwas.
Aber zurück zu Herrn Leemhuis. Er macht sich Sorgen über "Linux auf dem Desktop":
Wenn ich noch an den von vielen gehegten Wunschtraum "Linux auf dem Desktop" glauben würde, dann würde ich sagen, der rückt damit wieder etwas weiter in die Ferne
Ich frage mich, wen er mit "den vielen, die den Wunschtraum hegen" meint. Oder wieviele. Wahrscheinlich ein paar Marketingleute, so wie er einer zu sein scheint, die meinen sich mit Linux beschäftigen zu müssen. Und das Wort "Wunschtraum" ist dann auch gleich die Negation davon, denn ein Wunschtraum ist ein unerfüllbarer Traum.
In der Realität jedoch hat Linux und Opensource den Planeten nachhaltig erobert. Es hat nachweisbar und messbar die Welt signifikant verändert. Nehmen wir nur das Mobile-OS Android. Platz 2 nach Apple im Smartphonemarkt. Bald wird es einen Opensource-Sateliten geben. Ich könnte unendlich lange Beispiele aufzählen. Ja es mag sein, dass Linux am Desktop nicht weit verbreitet ist. Aber das liegt sicherlich nicht daran, dass es zu viele Fenstermanager oder Desktopsysteme gibt. Oder dass die, die es gibt schlecht wären (sind sie nicht, mein Stiefsohn arbeitet seit einem Jahr mit KDE und ist nachweislich ein völliger Noob was Rechner angeht - und ist klaglos zufrieden).
Die Ursache ist, dass PC Hersteller ohne Not ihre Systeme mit komerzieller Software vorinstallieren. Und die allermeisten PC-Käufer packen das Teil aus und wollen direkt gleich sofort loslegen. Da ist Windows installiert? Ok, clickety-click. Und es liegt an Schulen und Universitäten, die ebenfalls ohne Not Windows einsetzen. Auf diese Weise wächst der Nachwuchs mit Windows auf (oder mit Apple, da ist es das gleiche bzw. noch schlimmer, d.h. die Indoktrinierung dort ist schlimmer) und weiss gar nichts von Linux.
Und angesichts dessen ist die Heraufbeschwörung eines Problems weil es zu viele Forks gibt, totaler Unsinn. Wahrscheinlich hat dem Autor einer gesagt: Hey schreib mal was mit Linux Desktops. Oder so. Man weiss es nicht.
Übrigens - ich verwende FreeBSD und das hier ist mein "Desktop" (Fenstermanager CTWM):