Die Arroganz der Entrüsteten

Seit vielen Jahren geht das Problem durch die Medien, es gibt unzählige Dokumentationen und Studien: die Abholzung der Regenwälder. Jedes Jahr werden allein in Brasilien Flächen in der Größe der BRD abgeholzt (oder so, genaue Größen habe ich jetzt nicht, das tut aber hier nichts zur Sache). Während zwar die Beweggründe der "Täter" durchaus umfassend beleuchtet werden, bleibt trotzdem die Entrüstung. Der Vorwurf der Zerstörung schwebt in jedem Bericht, jeder Doku und jedem Artikel unterschwellig mit.

Und in der Tat ist es entsetzlich was man da an Bildern zu sehen bekommt. Ein Alptraum im wahrsten Sinne des Wortes. In vielen Fällen wird den dort Verantwortlichen Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, oder Ignoranz, oder Egoismus, oder Raffsucht, Gier - you name it. Mich stört das schon ziemlich lange. Diese hochnäsige Attitüde des Besserwissenden, der herabblickt auf die ungebildeten primitiven Horden, die rücksichtslos die Natur zerstören.

Die Frage ist, warum empfinde ich diese Sichtweise als arrogant? Im Grunde ist es sehr einfach. Wir - ich zähle mich da einmal mit hinzu - werfen den Menschen in der Dritten Welt Dinge vor, die wir auch getan haben. Oder noch tun. Unter "wir" verstehe ich damit unsere Kultur, das heisst nicht nur die jetzt existierende, die von sich selbst meint, besonders hoch entwickelt zu sein, sondern auch unsere Vorfahren, die ja unbestreitbar ein Bestandteil unserer Kultur sind. Denn wir sind in Summe nicht mehr und nicht weniger als das, was unsere Vorfahren uns in jeder Hinsicht hinterlassen haben.

Und unsere Vorfahren haben tatsächlich genau die Dinge getan, die die Menschen in Brasilien und anderswo heute tun: wir haben Wälder gerodet. Und zwar in großem Stil. Vor langer, langer Zeit war Europa einmal nahezu vollständig mit Wäldern bedeckt. Es gab unzählige Raubtiere wie Berglöwen, Pumas, Wölfe oder Bären und noch viel unzähligere Arten Pflanzenfresser. Nichts davon ist mehr da. Es gibt die großen Wälder Europas nicht mehr. Es gibt keine frei lebenden Bären mehr, eine Handvoll Wölfe quält sich noch in Polen durch ihre karge Existenz. Und wie wir heute wissen, leben in einem solch ausgedehnten Biotop eine Menge Arten, die allesamt austerben, wenn das Biotop verschwindet. Wölfe und Bären sind nur die Arten, von denen wir explizit wissen, dass wir sie ausgerottet haben. Wieviele ungezählte Spezies mag es hier gegeben haben, von denen wir gar nicht wissen, dass sie überhaupt je gelebt haben? Was für Blumen, Kräuter, Amphibien, Reptilien, Bakterien, Flechten und Vögel sind für immer verschwunden? Und das ist unsere Schuld, die Schuld unserer Kultur.

Das Ausmaß der Umweltzerstörung, das wir hinterlassen haben, übertrifft das der Brasilianer um ein hundertfaches. Es ist nur lange her. Niemand erinnert sich daran oder - wohl eher zutreffend - will sich daran erinnern. Ich muss mich nur auf der Insel Fehmarn, auf der ich heute lebe, umschauen. Hier gibt es überhaupt keinen einzigen unberührten Flecken mehr. Ja, es gibt ein "Vogelschutzgebiet Wallnau". Aber das ist flächenmäßig so winzig, das ist ein Witz. Und ansonsten gibt es auf Fehmarn nur Felder, Häuser und Strassen. Wir haben genau 2 Wälder. Jeder davon ist etwa 1-2 Quadratkilometer gross. Das ist alles. Es gibt ein paar Rehe, haufenweise Hasen, die üblichen Verdächtigen Vogelarten. Mehr nicht. Aber so war das freilich nicht immer. Früher war die Insel einmal vollständig von Wald bedeckt. Es gab einen Artenreichtum, von dem heute nichts mehr übrig ist. Ok, es ist locker 5000 Jahre her, seit die Menschen angefangen haben, hier die Wälder zu roden. Aber für die Natur, die dadurch verloren gegangen ist, macht es keinen Unterschied, ob etwas heute oder vor 5000 Jahren geschieht. Es ist geschehen, wir haben es getan und es ist nicht rückgängig zu machen.

Freilich ist das auch kein europäisches Phänomen. Als ein Beispiel von tausenden sei die Osterinsel genannt. Die war auch mal komplett mit Urwald bedeckt. Und das Biotop der Osterinsel war weiträumig isoliert. Man kann davon ausgehen, dass die allermeisten der dort vorgekommenen Arten einmalig waren. Vernichtet. Und natürlich ist die heutige "moderne" Forderung nach Wiederaufforstung keine wirklich neue Erfindung. Nachdem die Römer mit dem Bau des Hadrianwalls fertig waren, haben sie die ganzen Wälder, die sie dafür abgeholzt hatten, wieder aufgeforstet. Das war vor beinahe 2000 Jahren.

Was haben wir also? Da haben wir einen (fiktiven) Umweltschützer, der in Düsseldorf lebt. Er ist umgeben von Städten, Häusern, Gewerbegebieten, Industrie, Überlandleitungen, Windmühlen, Kraftwerken, Autobahnen, Freibädern oder Golfplätzen - keine Natur. Jedenfalls keine wirklich signifikant sich selbst überlassene, wilde, freie Natur in dem Sinne, wie wir einen Urwald betrachten. Er fährt jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit, wirft abends zu Hause die Heizung an, schaut Fernsehen und hat den Laptop auf dem Schoß. Dieser eine Umweltschützer verbraucht alleine mehr Energie, als eine mittlere Kleinstadt in Brasilien. Aber er regt sich auf. Über die Vollidioten dort drüben, die den Regenwald zerstören. Er spendet. Er unterzeichnet Peditionen. Er marschiert auf Umweltschutzdemos mit. Aber er fragt sich nicht, zu welchem Preis der ganze Komfort, mit dem er sein Leben verbringt, bezahlt wurde: durch die Zerstörung von Natur. Direkt dort, wo sei Haus steht, ist vor hunderten oder tausenden Jahren vielleicht der letzte Bär getötet oder der letzte tausendjährige Baum gefällt worden.

Diese Entrüstung, die allenthalben überall über dieses Problem geäußert wird, ist deshalb arrogant, weil sie von Menschen kommt, die sie gar nicht äussern könnten, hätten ihre Vorfahren nicht präzise das gleiche getan. Ich will damit nicht sagen, dass wir die Leute in Brasilien deswegen nun machen lassen sollen. Keineswegs. Aber aus Fehlern soll man lernen. Und diese ganzen sogenannten Umweltschützer sollten irgendwann einmal damit anfangen, besser bald als später. Die Fehler haben wir alle schon gemacht. Und die Frage, mit der man sich beschäftigen sollte lautet, wie kann man es besser machen? Wie kann man die Lebensqualität von Millonen oder Milliarden Menschen steigern, ohne allzu viel Natur dabei zu zerstören? Und die Antwort sollte nicht lauten, dass sich die Lebensqualität dieser Menschen nicht steigern soll. Doch, das soll sie. Aber solange sich darüber niemand Gedanken macht und Ideen vorbringt, wie das zu bewerkstelligen ist, sind die ganzen entrüsteten Umweltschützer nichts anderes als scheinheilige, sich selbst belügende, egozentrische, arrogante Ignoranten.

Und das geht mir gehörig auf den Zeiger. Musste ich einfach mal loswerden.

#science

↷ 02.10.2012